Das Peter von Känel und Silvan Schüpbach auf traditionelle Kletterei stehen, weiß man ja schon länger.  Nun konnte die beiden in eine der wohl traditionsreichsten Wände der Alpen eine neue Route wieder komplett ohne Bohrhaken erschließen.

Hier die Routeninfos:
Vom 19. Bis zum 23. August eröffnen Peter und Silvan eine neue Route in der Eigernordwand. Dabei folgen sie ihrem Ideal, keine Bohrhaken zu verwenden. Fünf Tage Klettern die beiden in der Wand der Wände mit der Ungewissheit, ob sie mit dem von ihnen gewählten Stil überhaupt hochkommen. Ein grossartiges Abenteuer und
ein Meilenstein in der Klettergeschichte des Eigers geht am 24. August zu Ende, als die beiden Alpinisten auf dem Gipfel des Eigers stehen.

Die Erstbegeher kletterten die kühne und elegante Felsroute bis auf zwei kurze Passagen frei. Sie setzten keine BH und beliessen insgesamt 8 Schlaghaken. Eine Wiederholung der
Tour ist ein Abenteuer und ein Hochgenuss für alle mit einem Faible fürs Trad-Klettern in grossen Wänden. Der überwiegend exzellente Fels ist schön strukturiert und erlaubt an vielen Stellen das Anbringen mobiler Sicherungen. Für eine Wiederholung sollte man 2 bis 3 Tage einrechnen. Die Route überwindet die «Rote Fluh» an deren rechten Rand und führt nach einer kurzen Gehpassage (mögliches Biwak) relativ direkt durch die kompakte, teils überhängende Wand rechts vom Tschechenpfeiler. Im obersten Teil folgt die Route über drei Längen der Ghilini-Piola. Während diese über einfache Felsen nach rechts auf den Westgrat aussteigt, bietet die «Renaissance» nochmals drei weitere schöne Längen, bis man schliesslich auf dem Westgrat auf 3480 m aussteigt. In Routennähe gibt es mehrere geschützte Biwakplätze, die jedoch meist nur einen einzigen Schlafplatz bieten. Für eine Wiederholung empfiehlt es sich daher, ein Portaledge mitzunehmen. Das Fehlen von Bohrhaken gibt der Route eine bemerkenswerte Ursprünglichkeit und Ernsthaftigkeit. Die Route kann nicht einfach konsumiert werden, sie fordert Engagement. Andererseits steigert dies den Erlebnis- und Abenteuerwert massiv, denn auch das Wiederholen der Route fühlt sich ein wenig nach Erstbegehung an. Neben einem soliden Kletterniveau verlangt die Route ein geübtes Auge, sowohl für die Kletterlinie, als auch für das Anbringen mobiler Zwischensicherungen. Ebenfalls
hilfreich ist eine realistische Einschätzung der eigenen Fähigkeiten und ein permanentes, bewusstes Kontrollieren des objektiven Risikos während des Vorstiegs.

Facts:
„Renaissance“

Silvan Schüpbach und Peter von Känel, 19.-24. August 2023.

EX, 7c? (7a obligatorisch) 1220m / 820 Höhenmeter ab Stollenloch, verteilt auf 30 Seillängen.

Verwendetes technisches Material: Doppelseile 60 m, 2 Satz Cams #0.2-2 (Totemcams von Vorteil), Klemmkeile

Peckers, Schlaghaken, Skyhook, Portaledge
Weitere Infos: www.obsig.ch, www.slack-line.ch

Gedanken von Silvan:

In den letzten Jahren wurden in der Nordwand des Eigers viele neue Kletterrouten eingerichtet. Ich
selbst durfte viele dieser Routen wiederholen und bin fasziniert von der Qualität und Schönheit
dieser Klettereien, welche mit viel Schweiss und Können erstbegangen wurden.
Diese Routen haben alle gemeinsam, dass sie mit Hilfe von elektrischen Bohrmaschinen und
Bohrhaken möglich gemacht wurden; dass somit die Felsen des Eigers beklettert werden, die
Absicherung jedoch mit modernen Maschinen «garantiert» wird. Ich finde dies nicht verwerflich,
sondern eine logische Entwicklung des Klettersports.
Ich frage mich seit ein paar Jahren, ob man das heutige Kletterkönnen auf den Eiger anwenden kann
aber mit den Sicherungsmitteln (ohne Bohrmaschine) von einst? Dies schien mir eine faszinierende
Herausforderung zu sein. Zufall, Glück und Können haben sich für uns vom 19.-23. August vereint:
Einer der letzten unberührten Wandteile des Eigers hat uns in unserem Stil gewähren lassen –
anlässlich eines mehrtägigen Wetterfensters mit hohen Temperaturen und ohne Niederschläge.
Es würde uns freuen, wenn in Zukunft wieder mehr junge Bergsteigende und Kletternde auf
traditionelle Sicherungsmittel setzen – und eine Renaissance beim Klettern in grossen (und kleinen)
Wänden einläuten würden.

Gedanken von Peter:
Silvan hat diese grandiose Linie ursprünglich entdeckt und mit grossem Aufwand ausgearbeitet. Ich
bin ihm sehr dankbar, dass er mich als Partner für dieses Projekt angefragt hat. Als Team
funktionieren Silvan und ich bestens und wir ergänzen uns hervorragend. Auch haben wir einen
ähnlichen, leicht schrägen Humor und teilen diverse kulinarische Vorlieben wie z.B. reichlich
Mayonnaise und Butter.
Mein Kletterniveau ist solide, aber nicht überragend und ich stosse gradmässig bald einmal an meine
Grenzen. Andererseits gehört es zu meinen Stärken, dass ich meine Kletterfähigkeiten auch in mental
anspruchsvollen Situationen, z.B. hoch über einer mobilen Sicherung, abrufen kann.
Silvan und ich beschäftigen uns seit einigen Jahren intensiv mit dem bohrhakenfreien Klettern im
Kalkstein. Rückblickend nehme ich unsere gemeinsamen Erstbegehungen am Stockhorn und am
Dündenhorn als Zwischenstationen wahr, die uns die «Renaissance» schliesslich erst ermöglichten.
Bevor mich Silvan damals mit dem bohrhakenfreien Klettern angefixt hat, realisierte ich meine
Erstbegehungen alpiner Mehrseillängentouren jeweils mithilfe von Bohrhaken. Dank selbst
auferlegter Regeln beim Einbohren, z.B. Einrichten von unten, keine Hakenleitern, keine Clifflöcher
etc., hat mir diese Art von Erstbegehen zwar viele grossartige Abenteuer beschert, trotzdem wuchs
mit zunehmender Erfahrung mit mobilen Sicherungen mein Appetit nach bohrhakenfreiem Klettern.
Nicht zuletzt aufgrund meines begrenzten Kletterniveaus sehe ich darin die nächste Stufe in meiner
persönlichen Entwicklung als Kletterer. Das Kletterniveau ist zwar auch beim Trad-Klettern wichtig,
aber es ist nicht der alles entscheidende Faktor. Es braucht vielmehr eine austarierte Mischung
verschiedener Fähigkeiten. Rückblickend empfinde ich die Erstbegehung der «Renaissance» als
meinen bisherigen Höhepunkt in diesem Prozess. Die Kombination aus Klettern, Lesen des Felsens,
Legen mobiler Sicherungen und dem kontinuierlichen Austarieren des Risikos erlaubte mir, effizient
und mit einem guten Gefühl von Kontrolle vorzusteigen. Dies, obwohl die Tour mich mehrere Male an
meine Grenzen brachte.

Der Gedanken ans Losklettern mit mobilen Sicherungsgeräten am Klettergurt in eine jungfräuliche
Wand macht mich jedes Mal von neuem nervös. Wenn es dann soweit ist und ich losklettere, weicht
die Nervosität jeweils einer beinahe hypnotischen Fokussiertheit und Klarheit. Diese Momente sind
äusserst intensiv und gehören zu den unvergesslichen Höhepunkten meines Lebens.
Auf einer Gleitschirm-Flugaufnahme entdeckten wir vor der Tour im steilsten Teil der Wand
Felsstrukturen, die bezüglich Klettern und mobilem Absichern vielversprechend aussahen. Trotzdem
hat uns die Felsqualität vor Ort nochmals positiv überrascht. Etliche Seillängen dieser Tour finden
Eingang in meine persönliche «Hall of Fame» des besten Felsens, den ich bisher unter meinen Fingern
und Sohlen hatte. Ich hoffe sehr, dass die Linie bohrhakenfrei bleibt und damit Wiederholern ähnlich
intensive Momente fürs Fotoalbum des Lebens schenkt wie uns.

Silvan Schüpbach, 41, ist Bergführer, Coach,
Referent und Biotechnologe. Wenn er nicht
gerade in einer Wand hängt, ist er beim SAC für
die Förderung des Bergsteigens im
Nachwuchsbereich tätig. Wohnhaft in Thun mit
seiner Familie.

Peter von Känel, 50, ist Bergführer, Gleitschirm-
Tandempilot und Luftfahrt-Ingenieur. Zudem
hält er Vorträge, u.a. zum Umgang mit Risiken,
und ist Autor des Kletterlehrbuchs „Steep
Frozen“. Der Vater zweier erwachsener Töchter
lebt mit seiner Frau in Frutigen.