Diesen Sommer durfte ich mit meinen Bergpartnern aus Frankreich, Italien und der Schweiz eine äusserst abenteuerliche und beeindruckende Expedition in Ostgrönland abschliessen.

„By fair means“ – also aus eigener Kraft mit dem Kayak erreichten wir den Berg unserer Begierde. Die erste Durchsteigung der unberührten Nordwand der Droneren gelang uns erst nach mehreren Versuchen. Stürme, Packeis und Eisbärenbesuche rundeten unser Abenteuer ab.

Der komplette Bericht von Silvan.

35 Tage waren wir in der Wildnis von Ostgrönland unterwegs. Vollkommen autonom und auf
uns allein gestellt. Der Plan war simpel: 300km mit dem Kayak in den Skoldungen Fjord,
Erstbesteigung eines riesigen Bigwalls und wieder 300km Kayak zurück. Ganz so einfach
war es dann aber doch nicht…
Es ist kein Geheimnis, dass es bei einer Erstbegehung nicht um das Was sondern um das Wie
geht. Neuland ist eine endliche Ressource und deshalb möchte ich neue Routen in einem
möglichst sauberen Stil begehen. Bei einem richtigen Abenteuer ist der Erfolg unsicher, der Berg
hat eine Chance, nicht bestiegen zu werden. Das gefällt mir.
Mit dem Italiener Matteo Della Bordella, dem Franzosen Symon Welfringer und dem Schweizer
Alex Gammeter erreichten ich Mitte Juli 2024 Tasiilaq in Ostgrönland. Leider waren die
Verhältnisse sehr ungünstig. Eine Rekordmenge an Packeis blockierte viele Siedlungen und
verunmöglichte den Schiffsverkehr. Tagelang mussten wir tatenlos warten. Ironischerweise
hatte ich stets behauptet, dass Kayakexpeditionen in Grönland viel schöner seien als klassische
Expeditionen im Himalaya, weil man eben nicht viel Warten muss, sondern immer etwas zu tun
hat.
Ein Piteraq, ein katabatischer Sturm aus dem Inland, erlöste uns endlich und schob das Packeis
von der Küste weg. Wohlwissend, dass sich das Eis wieder schliessen wird, liessen wir uns mit
einem Motorboot zum Ausgangspunkt unserer Reise bringen.
Endlich waren wir in der Wildnis angekommen! Lange Tage auf dem Meer folgten. Langsam, aber
stetig paddelten wir in einer wilden Landschaft nach Süden. Riesige Gletscher und karge Berge
säumen die Küste. Gewaltige Eisberge reihten sich dicht an dicht.
Geschenkt wurde uns nichts. Jeder Tag auf dem Meer brachte eine Überraschung. Einmal
blieben wir im Eis stecken und entkamen nur knapp. Ein anderes Mal wurden wir bei
wechselnden Gezeiten beinahe von Eisschollen zerquetscht. Unvergesslich der Sturm, der uns
zwang, 60 Stunden im Zelt zu bleiben und zu hoffen, dass es nicht reissen würde. Der Sturm
liess sogar Steine durch die Luft fliegen, nur gut, dass wir einen sicheren Biwakplatz gefunden
hatten.
Stets starteten wir am Morgen mit der offenen Frage, welche Überraschung uns der Tag wohl
bringen würde. An Klettern oder Bergsteigen dachte niemand mehr, das Meer und die
grönländische Wildnis hatte uns fest im Griff.
Unser Team hat keine Führung, wir funktionieren wie eine kleine Demokratie mit den
entsprechenden Vor- und Nachteilen. Bereits die Entscheidung, wo die nächste Pinkelpause
sein soll, kann zu langen Diskussionen führen. Tatsächlich sind wir eine anstrengende Gruppe,
mit starken Meinungen und langsamen Entscheidungsprozessen. Obwohl dieser Umstand nicht
immer zu einer guten Stimmung beiträgt, ist es der Schlüssel für unseren Erfolg und unserer
Sicherheit. Mit Stolz schaue ich zurück auf die getroffenen Entscheidungen. Diese waren
mühsam diskutiert worden, aber stets gut und Zielführend.
Nach 10 Tagen und 300km erreichten wir endlich den Skoldungen Fjord. Erleichtert verliessen
wir das Meer, errichteten das Basislager und freuten uns auf das Klettern.
Der Skoldungen Fjord kann mit einer Oase verglichen werden. Ein mildes Klima sorgt für viel
Vegetation, klare Bäche und Flüsse sowie liebliche Täler und schöne Berge – eine
Postkartenidylle. Umgeben wir der Skoldungen Fjord von hunderten Kilometern von kargen
Gletscher- und Steinlandschaften. Bis in die 1970er Jahre gab es sogar eine Siedlung im Fjord.
Der amerikanische Abenteurer Mike Libecki hat diesen Ort mehrmals besucht und einige
beeindruckende Klettereien erstbegangen. Die gewaltige Nordwestwand der Droneren (1980m)
wurde zwar von Mike versucht, war aber bis jetzt noch nicht geklettert worden.
Selbstverständlich waren wir gekommen, um dies zu ändern.

Die Wand ist vom Basislager nicht sichtbar, deshalb waren wir ungeduldig und sind sofort
gestartet, um Material hochzutragen und die Wand zu sehen. Der Zustieg durch den flachen
Talboden hatte einen speziellen Charme. Während man sich nackt durch Flüsse und Sümpfe
quält, wird man von tausenden Sandfliegen gestochen. Weiter oben stiegen wir über Moränen
und Firnfelder zum Gletscher unter der Wand. Wie zur Begrüssung stürzte kurz nach unserer
Ankunft ein riesiger Felsblock aus dem linken Wandteil und zerschellte spektakulär am
Wandfuss. Nach diesem Ereignis waren wir uns schnell einig, uns beim Klettern an den zentralen
Pfeiler in Wandmitte zu halten.
Um Platz und Gewicht zu sparen, hatten wir nur zwei aufblasbare Portaledges, dafür einige
Fixseile dabei. Mit dem letzten halben Tag guten Wetters stiegen Matteo und Symon erneut zur
Wand hoch und fixierten einige Seile im ersten Wandteil. In der Folge war das Wetter sehr
unstabil. Meist hatten wir einen Schönwettertag, gefolgt von zwei Regentagen. Einen weiteren
Tag stiegen wir zum Fixieren der letzten Seile hoch. Diesmal durften Alex und ich klettern. Wir
erreichten einen Punkt am Pfeiler, wo keine Risse mehr waren. Ich hatte die Ehre, mir einen
Runout Quergang zu gönnen. Diese Schlüsselstelle konnte ich mit 4 seicht platzierten Peckern
absichern. Auch wenn es nur ein paar Meter waren, wird diese Seillänge für immer einen
Ehrenplatz im Fotobuch des Lebens haben.
Bis jetzt hatten wir seit unserer Abreise in Tasiilaq immer alle Hände voll zu tun. Genau das, was
ich an Expeditionen dieser Art sehr schätze. Leider war nun kein Wetterfenster mehr in Sicht, um
die Wand zu klettern. Wenigstens kam eines regnerischen Tages ein Kreuzfahrtschiff vorbei. Bis
an die Zähne bewaffnet kamen die gutsituierten Gäste in unser Basislager. Der Tourguide
erklärte uns, dass sie bald wieder zurück aufs Schiff müssten, um an einem der drei
Bordrestaurants zu dinieren, währenddem wir verdreckt und durchnässt herumstapften. Leider
wurden wir nicht eingeladen, aber immerhin gab es für uns noch einen Kasten Bier.
Den Basislager Boulder kannten wir inzwischen sehr gut und Matteo hatte die Technik, mit dem
Eisgerät Fisch zu fangen perfektioniert. Trotzdem sank die Motivation mit jedem Tag im
Basislager.

Zwischenzeitlich hatte es in den Bergen viel geschneit. Einen Versuch, die Wand zu klettern,

mussten wir deswegen aufgeben. Bei einem weiteren Versuch kam ein Sturm auf. Wir waren
bereits hoch an den Fixseilen aufgestiegen, als Steinschlag einsetzte. Zudem war eines der
Fixseile durch Steinschlag durchtrennt worden. Wieder zogen wir uns zurück.
Wir mussten uns entscheiden. Entweder sollten wir jetzt die Rückreise mit dem Kayak beginnen
oder wir würden uns näher am Basislager abholen lassen. Wir entschieden uns für eine letzte
Chance zu klettern und verzichteten auf die komplette Rückreise mit den Kayaks.
Ein dritter Versuch wurde wegen Regen abgebrochen. So war es unser vierter Versuch,
sozusagen in letzter Minute, als wir endlich wieder ans Ende der Fixseile gelangten. Symon und
Matteo kletterten schnell und motiviert voraus ins Neuland. Alex und ich haulten das ganze
Material. Es war grossartig, endlich in der Wand zu sein und unser Bestes zu geben! Spätabends
erreichten wir einen guten Biwakplatz hoch in der Wand. Die Stimmung war endlich wieder gut,
die Motivation hoch. Am nächsten Tag kletterten Alex und ich voraus. Es war kalt und je höher
wir kamen, umso mehr Schnee lag in der Wand. Alex kletterte einige kombinierte Seillängen –
ohne Steigeisen und Pickel. Nach der grandiosen Schlussverschneidung liessen wir die Felsen
unter uns und standen vor der beeindruckenden Gipfel Eiskappe. Hundert Höhenmeter später
waren wir endlich auf dem Gipfel. Die Droneren ist ein hoher, freistehender Berg und die
Aussicht ist einmalig. Unsere Blicke schweiften vom gewaltigen grönländischen Inlandeis zu den
vielen beeindruckenden Bergen bis hin zum arktischen Ozean.
Im letzten Tageslicht seilten wir ab und erreichten wieder den Biwakplatz. In der Nacht hatten
wir die beste Gipfelfeier, die man sich vorstellen kann: Nordlichter tanzten über uns hinweg und
verzauberten uns den Moment.


Als wir müde und zufrieden das Basislager erreichten, erhielten wir eine schlechte Nachricht.
Ein Rücktransport vom Skoldungen Fjord war nun doch nicht möglich. Also packten wir unsere
Sachen und beluden die Kayaks. Wir hatten noch Essen für 4 Tage und wollten wenigstens die
Hälfte der Strecke nach Norden bewältigen. Gerade als wir ins unsere Kayaks steigen wollten,
tauchte direkt hinter uns ein Eisbär auf. Er war sehr neugierig und wir waren alarmiert. Ich packte
das Gewehr aus und feuerte einen Warnschuss. Der Bär kam weiter auf uns zu. Ich feuerte ein
zweites Mal. Endlich weichte der Eisbär zurück und wir beeilten uns in die Kayaks zu steigen und
dem Basislager Lebewohl zu sagen.
Die folgenden Tage auf dem Meer hatten wir weitgehend gutes Wetter, entschieden uns jedoch
Nachtwache zu halten, weil der Eisbär uns wahrscheinlich folgen würde. Nach vier Tagen und
150km schlugen wir unser letztes Cam auf und warteten auf das Boot, welches uns abholen
sollte. Doch es kam niemand. Erst am Abend wurden wir informiert, dass niemand bereit sei,
uns abzuholen! Panik machte sich breit. Viele Satellitentelefon Gespräche später hatten wir
doch noch ein Boot gefunden, dass uns holen würde.
Am nächsten Morgen in der Dämmerung versuchte ein Eisbär mein Kayak auszuräumen. Zum
Glück war er scheu und machte sich wegen meines Gebrülls davon. Am Nachmittag traf endlich
ein Boot ein und die Anspannung von 35 Tagen Wildnis legte sich von einem Moment auf den
anderen. Unsere Odyssee war zu Ende.

Von Silvan Schüpbach

Bericht und Bilder: (c) Silvan Schüpbach

Alpinist und Bergführer

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Technical Facts:
Odyssea Borealis
35 Tage
450km Kayak
4 Begegnungen mit Eisbären 😉

Erstbegehung der Nordwestwand der Droneren (1980m)
Wandhöhe 1200m, 35 Seillängen
Schwierigkeiten bis 7b, purer Trad Stil