Seit Jahren steigen die Einsatzzahlen der Bergrettung obwohl die Anzahl schwerer Bergunfälle mit Todesfolge und schweren Verletzungen zurückgeht. So hat sich in Österreich die Anzahl der unverletzt geretteten Bergsteiger von 2015 (1011 Personen) auf 2018 (3020 Personen) innerhalb von vier Jahren verdreifacht (!).

Markus Stadler hat sich ein paar Gedanken zu dieser Entwicklung gemacht:

Wann ist es bei einer Notsituation in den Bergen angemessen die Bergrettung zu alarmieren und wie verhält es sich mit den Rettungskosten?

Seit Jahren steigen die Einsatzzahlen der Bergrettung kontinuierlich an während, gleichzeitig die Anzahl schwerer Bergunfälle mit Todesfolge und schweren Verletzungen zurückgeht. So hat sich in Österreich die Anzahl der unverletzt geretteten Bergsteiger von 2015 (1011 Personen) auf 2018 (3020 Personen) innerhalb von vier Jahren verdreifacht (!). Dieser Trend ist zu beobachten, seit kaum noch jemand ohne Handy im Gebirge unterwegs ist, in den letzten Jahren hat die Entwicklung aber nochmal massiv an Fahrt aufgenommen.

So sinnvoll es ist, in schweren Notsituationen eine professionelle Rettung zu rufen, so sehr sollte man in weniger kritischen Situationen zweimal überlegen, bevor man sich dazu entschließt einen Notruf abzusetzen. Man muss dabei immer bedenken, dass die Bergretter ihre Aufgabe vorwiegend ehrenamtlich erfüllen. Zudem kann ein unnötiger Einsatz Ressourcen binden, die vielleicht woanders in einem ernsten Notfall dringend gebraucht würden.

IN WELCHEN SITUATIONEN ENTSCHEIDE ICH EINEN NOTRUF ABZUSETZEN?

1. Lebensbedrohliche Situationen

Damit sind sehr schwere, u.U. stark blutende Verletzungen, Vermutung auf innere Verletzungen, multiple Brüche oft auch verbunden mit Bewusstlosigkeit, sowie Krankheitsanfälle wie Herzinfarkt, Schlaganfall, Allergieschocks etc. gemeint. Hier gibt es keine Diskussion – ein Notruf ist immer erforderlich, unabhängig ob man sich in den Bergen befindet oder im Tal.

2. Ernste Verletzungen oder Beschwerden

Viele Verletzungen sind zwar ein klarer Fall für die Klinik (z. B. Brüche), sie sind aber erstmal nicht lebensbedrohlich, zumindest wenn sie in absehbarer Zeit versorgt werden. Ähnlich ist es bei schweren Erfrierungen, wo aber eine rechtzeitige professionelle Versorgung u.U. darüber entscheidet ob das restliche Leben ohne Finger oder Zehen absolviert werden muss. Normalerweise wird in solchen Situationen ebenfalls die professionelle Rettung gerufen, sofern sich ein Abtransport in die nächste Klinik nicht schnell und unproblematisch selbst durchführen lässt.

3. Kleinere Verletzungen und Beschwerden

Eine Platzwunde am Kopf, ein Schnitt mit dem Brotzeitmesser in die Hand, Schürfwunden an den Knien nach einem Sturz, Blasen an den Füßen etc. Es gibt fast nichts, was ein erfahrener Bergretter noch nicht erlebt hat. Ob dafür jedesmal gleich der Hubschrauber fliegen muss ist mehr als fraglich. Denn Fakt ist: Bei Flugwetter wird in vielen Fällen abseits des befahrbaren Geländes der Heli geschickt (siehe unten).  Letztendlich sollte man ähnliche Kriterien ansetzen wie bei einem Vorfall zu Hause. Wann kann man selbst noch zum Arzt oder ins Krankenhaus gehen, bzw. lässt man sich von Familienangehörigen oder Freunden fahren und wann ruft man den Rettungswagen?

Fazit: Ein Notruf nur, wenn unbedingt nötig, also zum Beispiel, wenn der Patient nicht mehr mobil ist und aus eigener Kraft nicht bis zur nächsten befahrbaren Straße kommt (gravierendere Verletzungen im Bereich der Füße und Beine). Alles andere strapaziert das Rettungssystem unnötig.

4. Blockierungen

Von einer Blockierung spricht man, wenn ein Bergsteiger „weder vor noch zurück“ kommt, meistens weil das eigene Können überschätzt wurde (z. B. in Klettersteigen) oder nicht die erforderliche Ausrüstung mitgeführt wird (z. B. ein Seil, um sich im Notfall selbst abseilen zu können oder Steigeisen um vereiste Passagen bewältigen zu können). In vielen Fällen wird ein Notruf erforderlich sein, sofern keine erfahrenen und entsprechend ausgerüsteten Bergkameraden in der Nähe sind, die einem aus der Patsche helfen können. Eine akribische Planung und ehrliche Selbsteinschätzung vor der Tour würde die allermeisten dieser Rettungen obsolet machen.

5. Notbiwak

Die plötzlich hereinbrechende Dunkelheit ist ein Mythos, den es nicht gibt. Es läßt sich vorab sehr genau sagen, wann es dunkel wird. Sofern kein unvorhergesehener Notfall dazwischengekommen ist, handelt es sich also um einen Planungsfehler. Hat man Stirnlampen im Gepäck, muss man situationsbezogen entscheiden ob das Gelände einen Abstieg in der Dunkelheit erlaubt. Falls dies zu riskant erscheint, ist ein Biwak erforderlich. Sind Wetter und Temperatur halbwegs erträglich, kann das aber ein sehr bereicherndes Erlebnis werden. Ein Notruf ist nur angemessen, wenn Ausrüstung und/oder Witterungsbedingungen befürchten lassen, dass man die Nacht nicht unbeschadet übersteht. Ein potenzielles Biwak an sich bzw. ein paar Stunden frieren sind noch kein Grund, die Bergretter zu einem nächtlichen Einsatz zu rufen. Tipps fürs Biwakieren in Notsituationen findest Du in dem folgenden Video.

6. Vermutung eines Notfalls

Ein heikles Thema, das aber an dieser Stelle auf keinen Fall fehlen darf. Wir bzw. Freunde von uns haben schon mehrmals erlebt, dass uns am Ende einer Klettertour plötzlich Bergretter entgegenkamen und uns retten wollten. Überaufmerksame Hüttenwirte oder Wanderer hatten die Rettung alarmiert, weil sie gerufene Seilkommandos als Hilferufe interpretierten, weil ein kurzes Gewitter durchgezogen war und sie sich nicht vorstellen konnten, dass man eine 4er Kletterei auch im nassen Zustand bewältigen kann oder einmal auch ganz einfach, weil sie eine Seilschaft beobachtet hatten, diese aber plötzlich nicht mehr sehen konnten (weil die Route ums Eck auf die andere Seite des Berges führte). Nach einem dieser Vorfälle bekamen wir eine Rechnung über mehrere Tausend Euro für den „Rettungs-„Einsatz zugesandt. Die Sache wurde dann zum Glück von der Alpenvereins-Versicherung reguliert, ansonsten hätten wir uns mit der alarmierenden Hüttenwirtin oder gar mit der Bergrettung um die Begleichung der Rechnung streiten dürfen. Nachdem heutzutage fast jeder ein Handy dabei hat, würde ich als Unbeteiligter die Rettung nur rufen wenn ich mir 100% sicher bin, dass Hilfe benötigt wird. Von der anderen Seite betrachtet, kann es eine gute Idee sein, ein geplantes Biwak vorab der zuständigen lokalen Bergrettung mitzuteilen – vor allem wenn es an exponierter Position stattfinden soll, die vom Tal oder einer Hütte aus gut sichtbar ist. Sollte ein Unbeteiliger einen Notfall vermuten, weiß die Bereitschaft dann bereits Bescheid.

HELDEN UND MYTHEN

Wie auch immer ein Notfall geartet ist: Bei einem Rettungseinsatz oder einer Suchaktion sind fast immer ehrenamtliche Einsatzkräfte beteiligt, die ihre Aufgabe in ihrer Freizeit erfüllen, viel Engagement aufbringen und in manchen Extremsituationen mit übermenschlichen Leistungen Leben retten. Dafür gebührt ihnen großer Respekt und aufrichtiger Dank.

Man muss aber auch betonen, dass diese Aufgabe freiwillig erfolgt und dass von der Einsatzleitung sehr genau beurteilt und abgewogen wird, wann ein Einsatz sicherheitstechnisch noch vertretbar oder schon zu gefährlich ist. Der häufige Vorwurf „leichtsinnige Bergsteiger zwingen Rettungskräfte, sich in Gefahr zu begeben“ ist daher falsch. Die Bergrettung kann auch entscheiden, einen Einsatz nicht zu wagen oder zu verschieben wenn es zu gefährlich ist. Trotzdem bleibt – beim Bergsteigen selbst – immer ein gewisses Risiko. Theoretisch kann bei jedem Einsatz etwas passieren und es gibt sicher Einsätze die man als überdurchschnittlich risikoreich einstufen kann. Ein zwingender Zusammenhang mit dem Grad des Leichtsinns der betroffenen Bergsteiger besteht dabei aber nicht.

Falsch ist zum großen Teil auch die Behauptung, die Rettungskosten würden von der Allgemeinheit bezahlt. Die Kosten für Ausbildung und Ausrüstung werden zwar von der Allgemeinheit finanziert, das passiert aber weitgehend unabhängig davon, ob es 1000 Einsätze im Jahr gibt oder überhaupt keinen. Für die EInsätze selbst werden Einsatzpauschalen angesetzt die vom Aufwand abhängen. Und was die Flugrettung angeht ist eher das Gegenteil richtig: Zum Teil wird das allgemeine Flugrettungssystem nämlich von den Freizeitsporteinsätzen sogar mitfinanziert.

KOSTEN EINES NOTFALLEINSATZES

Wer für die Kosten eines Rettungseinsatzes im Gebirge aufkommen muss, hängt von vielen Faktoren ab. Einerseits, ob es sich um eine Bergung, um einen Krankentransport (z. B. Herzinfarkt) oder um einen Freizeitunfall handelt. Anderseits gibt es Unterschiede zwischen den verschiedenen Ländern.

Hubschrauber Rettungsflug im Winter

Bei einem Notruf im Gebirge ist der Einsatz eines Hubschraubers inzwischen oft schon Standard – sofern das Wetter gut ist.

Beispiel Österreich: Dort betreibt die Flugrettung der ÖAMTC mit seiner Hubschrauberstaffel. Der Großteil der Einsätze für diese Hubschrauber betrifft Alltagsnotfälle (Krankheit, Verkehrsunfälle, Arbeitsunfälle, Haushalt etc.). Normalerweise werden die Kosten von der jeweiligen Versicherung des Patienten übernommen, es gibt aber auch Fälle wo dies nicht der Fall ist, weil sich die Versicherung weigert oder keine vorhanden ist. Aus „sozialen Gründen“ stellt der ÖAMTC dann keine Rechnung. Außerdem „lohnen“ sich diese Einsätze der „Grundversorgung“ betriebswirtschaftlich nicht, weil die Abrechnungssätze der Versicherungen recht gering sind. Die Folge ist ein dickes Defizit.

Ganz anders sieht es mit den Freizeitsportunfällen (z. B. Skiunfälle) und -rettungen (z. B. Blockierung in einem Klettersteig) aus, die mit deutlich höheren Sätzen abgerechnet werden und ein ordentliches Plus in die Kassen des ÖAMTC spülen. In diesen Fällen wird auch auf die soziale Komponente verzichtet. Bergsteiger sind fast alle über den Alpenverein versichert, und die Abrechnung ist dann für den ÖAMTC selbstverständlich und ohne Scherereien möglich. In den anderen Alpenländern sieht es m. W.  ähnlich aus, teils muss der Verunfallte in Vorleistung gehen, kann sich das Geld aber dann von seiner Versicherung zurück holen.

Letztendlich sind die Flugrettungen von Bergsteigern, Wanderern und Skifahrern ein lukratives Geschäft. Die Versicherungsbeiträge der Alpenvereinsmitglieder werden pauschal zwischen dem Alpenverein und deren Versicherung vereinbart und mit dem Vereinsmitgliedsbeitrag bezahlt. Sie fallen beim Einzelnen praktisch nicht ins Gewicht und werden von den Versicherungen natürlich so angesetzt, dass es sich für sie lohnt. Faktisch verdienen also sowohl die Versicherungen als auch die Flugrettungsorganisationen gut an dem System und der Anreiz statt einem (kostensparenden) terrestrischen Rettungstrupp den Heli zu schicken steigt. Während die Einsatzpauschalen der Bergrettung je nach Aufwand im Bereich 300 bis 1100 Euro liegen, schlägt ein Heliflug in der Regel mit 2000 Euro aufwärts zu Buche.

Auf der Strecke bleiben die ehrenamtlichen Bergretter, wie Kristian Rath aus dem Allgäu im Grenzbereich zu Tirol berichtet: „In Östereich werden die lukrativen Luftrettungen tatsächlich oft von Profis durchgeführt. Die picken sich dann die Rosinen heraus und fliegen auch mal, wo es gar nicht nötig wäre, weil ein Abtransport auch mit dem Skidoo möglich wäre. Ich habe aus dem Tannheimer Tal schon Klagen gehört, dass die Bergrettung nur noch zu irgendwelchen Scheißeinsätzen gerufen wird, wenn man nicht fliegen kann.“ Diese Praxis fördert auch das Anspruchsdenken. Treffen Bergretter nach Aufstieg im Mistwetter bei dem Verunfallten ein, hören sie manchmal Kommentare wie: „Warum könnt ihr mich jetzt nicht mit dem Hubschrauber runterfliegen?“

In die Röhre schauen zudem die (wenigen) Bergsteiger ohne klaglos zahlende Versicherung, denen dann ein solch unnötiger Heliflug berechnet wird und dessen Kosten sie aus eigener Tasche bezahlen müssen. Aber wehe sie sind so undankbar und wagen es die Umstände ihrer Rettung zu kritisieren (oder gar gegen die Rechnung zu klagen). Zumindest in den sozialen Medien ist dann der Shitstorm vorprogrammiert.

Fazit: Seht zu, dass ihr eine ausreichende Versicherung ohne Ausschlüsse habt und versucht unnötige Notrufe zu vermeiden.

von Markus Stadler (www.stadler-markus.de)