Warum man in einem sehr selten begangenen Kletterweg in der Sächsischen Schweiz sehr viel übers Leben lernen kann (… wenn man´s denn „KANN“  )

Von Thorsten Kutschke**

„Hattest Du das auch mal: ANGST…?“

Dieses Wort schwebt heute unablässig-hartnäckig durch den Raum wie der Geruch des würzigen Pfeifentabaks, der in den alten Holzmöbeln klebt.

Ob eine lebende Kletterlegende dieses Gefühl auch kennt, möchte ich von dem drahtigen Gesellen wissen, der mir in seinem Arbeitszimmer gegenübersitzt.

Bernd Arnold schaut mich mit wachen Augen an. Und nimmt sich Zeit mit der Antwort.

Ein tiefer Zug aus der Pfeife, ein schelmischer Blick über den Rand der Nickelbrille. Kurz darauf verschwindet der 72jährige für einen Moment hinter den weißen Wölkchen aus schmauchendem Tabak. Als er wieder auftaucht, lehnt er sich zurück und lacht: „Natürlich habe ich auch manchmal nach der Mami gerufen… Und manchmal hab ich mich auch geschämt dafür.“
Wir lachen beide und wissen ohne weitere Worte, dass der Altmeister hier nicht über seine frühe Kindheit referiert, sondern über heikle Momente in der Vertikalen.

 

Thorsten Kutschke im Gespräch mit Bernd Arnold. (Foto: BIWAK-TV/MDR)

Wenige Wochen vorher, am Pfaffenstein: Der Mann, der hier mit verkniffenen Augen himmelwärts schaut und sich auf der Unterlippe herumkaut, ist vier Jahrzehnte jünger als Bernd Arnold. Und er versucht sich beim Blick nach oben vorzustellen, wie der „Kletterpapst“ das wohl damals bewerkstelligt haben mag, vor immerhin schon 38 Jahren. Als er selbst, Alex Hanicke, noch nicht mal als Quark im Schaufenster zu ahnen war. Als Arnold, damals schon im Zenit seines Könnens, an jenem 15. April 1981 den richtigen Weg über die messerscharfe Kante neben der Schlucht fand. Als am Jäckelfels unbändiger Wille und außergewöhnliches Können stark genug waren, um die Angst zu vertreiben und zu besiegen. Die Angst vor einem bösen Sturz in die bedrohliche Schlucht nebenan.

„Das ist ein interessantes Thema“, sagt Bernd Arnold, „wir sehen und hören ja oft nur noch von tollen Heldentaten und Siegern. Aber die Angst gehört ja beim Klettern dazu. Ich habe mich immer gefreut, wenn ich Angst hatte…“

Pause, Lächeln, Rauchschwade…

Foto: BIWAK-TV/MDR

Alex Hanicke hat lange mit sich gerungen. Wie so mancher Bergsteiger, der in der Sächsischen Schweiz den IX. Schwierigkeitsgrad beherrscht, hat sich der 30jährige irgendwann mal die Frage gestellt, ob er DIESEN Arnold-Weg am Jäckelfels einmal im Leben klettern möchte. Oder ihn zumindest probieren.

„Lohn der Angst“ – so hat Arnold den Tanz der Gummisohlen und suchenden Hände auf dem nahezu grifflosen Sandstein genannt. Vier Ringe hat er an die Kante geschlagen und den Weg ursprünglich mit IXb bewertet. Inzwischen ist er um einen Grad nach oben gestuft und hat zwei Sternchen im Kletterführer. Und gehört trotzdem zu den gefürchtetsten Routen in der gesamten Sächsischen Schweiz.

„Irgendwann als junger Kerl hab ich in einem Bildband von Frank Richter mal Fotos von einer Begehung gesehen“, erzählt Alex: „Der Rossi (Steffen Roßburg/d.A.) klebte damals an dieser Kante. Ich bin damals auch schon geklettert, aber nie im Leben habe ich mir auch nur annähernd vorstellen können, wie man an dieser Linie überhaupt Halt finden kann. Geschweige denn hochklettern…“ Dass es mit dem Halt-finden nicht ganz einfach ist, wird im Richter-Bildband nicht „verschwiegen“: Auf einem der Fotos fliegt der Rossi. Und er fliegt weit… Das ahnt man.

Alex ist nervös, aber er wirkt entschlossen: „Es gibt Kletterwege, die sind Sport. Und es gibt welche, die sind Sport für den Kopf.“ Unter seinen Rasta-Locken brodelt der Gedanke seit einem halben Jahr nun schon. Und er hat ihm nicht von ungefähr so manche schlaflose Nacht bereitet.

12 Jahre hat es beim Altmeister gedauert, von der Idee bis zum Gipfelbuch. Bernd Arnold ist bestens auf unser Gespräch vorbereitet, hat die entsprechenden Passagen aus seinen umfangreichen Aufzeichnungen gekramt und auf dem Tisch ausgebreitet. Er nimmt uns mit auf eine Reise in die 60er Jahre: „Natürlich hat jeder diese Kante schon mal gesehen, man läuft ja auf dem bequemen Weg zum Pfaffenstein direkt dran vorbei. Und da hat man immer so gedacht: Toll und verrückt, was die Natur da geschaffen hat. Aber dort hochklettern? Unmöglich!“ Den Entschluss, es irgendwie doch wenigstens mal zu versuchen, die Kante mal zu „umarmen“, den habe er im fernen Kaukasus gefasst, erinnert sich der 72jährige. „Mit dem steigenden Leistungsvermögen setzt man sich ja auch höhere Ziele“, lächelt er. 1969, als am Eingang zur finsteren Klamm noch ein altes Holztor stand, ist er die Kluft zum ersten Mal hochgespreizt, fand eine Schlinge, schaute, probierte… „Das kann man keinen ernsthaften Versuch nennen“, sagt er heute, „aber die Idee, die war geweckt!“

Vier Jahre lang hatte die Kante danach Ruhe.

Bernd Arnold hatte genug andere Projekte, seine Welt war groß im kleinen Elbsandsteingebirge. Felsen oder Wände wochenlang zu belagern, das war seine Sache nie. Alles hübsch nacheinander. Und alles zu seiner Zeit.

„Angst haben wir ja – egal in welchen Lebenslagen – immer dann, wenn wir spüren, dass wir einer Situation nicht gewachsen sind. Das kann beim Klettern sehr bildhaft sein,“ murmelt es durch eine neue Rauschwade. Und natürlich weiß auch Bernd Arnold, wie sich das anfühlte, als er mal aus der Wand „nach der Mami“ rief oder im hohen Bogen talwärts flog. Geschehen 1973, als er schon zwei Ringe in der Kante platziert hatte. Hoch überm zweiten Sicherheits-Eisen hatte er sich bis neben eine grün-schimmernde und rundgelutschte Mulde gehangelt. Zu der muss er hinüberqueren, den dort sieht er den erlösenden Untergriff. „Mir war schon richtig warm im Bauch, als der rechte Fuß gut stand. Ich dachte ich hab´s. Aber als ich den linken Fuß zu sehr belastet habe, ist mir der rechte abgepfiffen. Und ich bin in die Schlucht gerauscht. So kurz vorm Ziel – Reifenpanne…“ Er schmunzelt, heute kann er das. Und passiert ist damals zum Glück nichts, weil Gisbert Ludewig am 2. Ring sicherte und seine Christine aus der Schlucht eine Schwebesicherung gebaut hatte. Glück gehabt, aber bis auf Weiteres keine Lust mehr auf Flugstunden am Jäckelfels. Acht Jahre lang.

Spannender als ein Krimi… An der Kamera: Bergsichten-Chef Frank Meutzner. (Foto: BIWAK-TV/MDR)

„Das ist das Blöde an der Kante“, sagt ein nachdenklicher Alex am Wandfuß anno 2019 und legt den Kopf in den Nacken. Dadurch dass man diese Kante so extrem hangeln muss, wird’s bei einem Sturz gefährlich. Wenn Dir der Fuß wegschmiert und Du mit der Kniekehle ins Seil einfädelst, dann knallst Du 10 oder 12 Meter tiefer mit dem Kopf gegen die Wand…“

Und warum denkt er trotzdem darüber nach? Weil er glaubt, „dass wir uns alle manchmal auch ein bißchen nach Unsicherheit sehnen“, wie er sagt. Nicht im Sinne von lebensmüde oder Harakiri, aber „einfach mal nicht zu wissen, was kommt und wo die Reise hingeht. Heutzutage steigt ja kaum noch jemand in ein Auto ohne fünf ESP-Systeme, wir leben zwischen ausgefeilten Brandschutzverordnungen und Airbags überall. Man glaubt ja immer, im 21. Jahrhundert gäbe es keine Abenteuer mehr. Aber hier, an den sächsischen Kletterfelsen, gibt´s die noch. Und deshalb zieht es mich hier raus.“

Bernd Arnold hat vor 40 Jahren seine Angst trainiert, seine Psyche geschult. Ist Free-Solo geklettert, hat immer wieder in den Spiegel der Seele geschaut, sich selbst hinterfragt und geprüft. Und er hat eine wertvolle Erfahrung gemacht dabei: „Man kann das trainieren, wenn man sich immer weiter fordert und verbessert. Soweit, dass man irgendwann keine Angst mehr hat vor der Angst.“

1981 ist Arnold mit der Hilfe seiner bewährten Gefährten die Erstbegehung gelungen. 38 Jahre klettert Alex Hanicke auf seinen Spuren. Eine Angst war schon mal unbegründet an diesem Tag – nämlich die, dass es zu warm sein könne mit 26 Grad. Aus der finsteren Kluft kommt ein wohltuend kühler Luftzug. Der Fels ist trocken. Die Hände von Alex auch – zumindest bis zum 2. Ring…

Foto: BIWAK-TV/MDR

Er trägt einen knallgelben Helm. Macht er nicht oft, aber hier klettert der junge Lehrer nicht mehr ganz so draufgängerisch wie in den wilden Jahren unbeschwerter Jugend. Seit er eine kleine Familie hat, „haben sich die Prioritäten schon ganz schön verschoben“, hat er uns am Einstieg gesagt. Er hat Arnolds Worte im Ohr („Aus Angst muss gesunde Ehrfurcht werden!“) und hat sich genau überlegt, wie weit er hier gehen kann und will: „Dieser Sturz da oben in Richtung 3. Ring… den muss ich als Option akzeptieren und riskieren. Sonst habe ich hier keine Chance. Dafür ist es zu schwer.“

Es ist totenstill an diesem Nachmittag – selbst die Vögel ringsum scheinen schweigend zu staunen und mit zu fiebern. Nur die konzentrierten Atemzüge von der Kante sind zu hören.

Wie sagte es Arnold? „Bewusst atmen ist wichtig. Das macht die Birne frei!“

So scharf wie die Kante von unten aussieht, ist sie gar nicht. Eher rund, schwer bis gar nicht zu greifen. Alex muss sie umarmen und sich gleichzeitig wegstützen – vorsichtig tastet sich der rechte Fuß zum nächsten Hook. Wieder ein halber Meter. Atmen!

Links am Massiv hängt Frank Meutzner im Seil, der Himalaya-Bergsteiger, Chef des „Bergsichten“-Festivals und Kameramann bei diesem Projekt. Aufmerksam folgt die Kamera jeder einzelnen Bewegung.

Jetzt!

Jetzt hat er hat die Höhe der Mulde erreicht. Links hinüber muss er. Die inzwischen „vertraute“ Kante verlassen. In eine aalglatte dunkle Wand queren. Wenn er sich traut… Wenn er es nicht doch mit der Angst zu tun bekommt…

Abends zuhause hat er viele Stunden damit zugebracht in den letzten Wochen, nach den wenigen Fotos von diesem Weg zu suchen, nach Erfahrungsberichten. Mehrfach war er am Pfaffenstein, ist aufs Massiv gestiegen, hat sich den Weg aus allen Perspektiven angeschaut und – eine Idee entwickelt. Einen „Fahrplan“ quasi, mit dem er glaubt an der Schlüsselstelle eine Chance zu haben. Unten am Wandfuß hat er uns das demonstriert, eine Abfolge aus 15 Zügen bzw. Tritten. Auswendig gelernt. Die eben-erdige „Trockenübung“ hat gute 30 Sekunden gedauert. Aber jetzt… Jetzt hat er 12 Meter Flug-Korridor unter den Fußsohlen.

Kein Zögern mehr. Die linke Hand läßt los von der Hangelkante. Streckt sich. Sucht in der Mulde irgendwas, woran sie ziehen kann. Die Schuhsohlen pressen mit aller Kraft auf senkrechter Reibung. Der Körper verbiegt sich… der rechte Arm jetzt: Weg von der Kante… durchs Nichts eine kleine gefühlte Ewigkeit, bis auch der in der Mulde wieder den Fels berührt und Halt sucht…

Ob ihm jetzt auch „warm im Bauch“ ist, so wie anno 1973 Bernd Arnold… ?

Ein Schrei! Und noch einer!
Verdammt… fällt er jetzt?

Die sonst so gefasste und sympathische Stimme überschlägt sich, die Tonmelodie scheint für ‚Momente nicht mehr von dieser Welt: „Was ist das denn?“ schreit Alex, nein: Er kreischt es durchs Gebirge! Die Hand zieht, hat den Untergriff, das Knie klemmt in der Mulde. Er holt das Seil… klinkt den Ring ein. Und vollführt einen Hexentanz am Sandstein, auf den sie im Harzer Granit eine halbe Ewigkeit neidisch sein dürften.

Er schlägt den Fels mit der flachen Hand, er tanzt, er juchzt, er kämpft mit den Tränen, er schreit alles hinaus, was ihn an Zweifeln und Ängsten in den letzten sechs Monaten geplagt, gelockt, verfolgt und gereizt hat. Was ihm in diesen Sekunden aus der Seele purzelt, klingt um Tonnen schwerer als der ganze Jäckelfels.

„Ich hatte gar keine Angst“, schluchzt er fast ungläubig um für einen kurzen Moment den Kopf an den Fels zu lehnen… noch einmal die Züge resümieren, die ihn hierher gebracht haben. Mit vollem Risiko in die Sicherheit. Zurück in die Komfortzone. An den 3. Ring. Und er flüstert, nur hörbar für das kleine Film-Mikrofon am T-Shirt-Kragen: „Das ist er also… der Lohn der Angst.“

Das Gipfelbier ist schwer verdient… (Foto: BIWAK-TV/MDR)

Bernd Arnold lächelt zufrieden, daheim in Hohnstein: „Der Lohn der Angst war die Auseinandersetzung mit der Kante. Und mit der Angst. 12 Jahre lang. Und der Lohn war, dass ich es dann 1981 so genussvoll klettern konnte… also nicht spielerisch, aber ästhetisch anspruchsvoll. Und das war unglaublich schön“ Nie während unseres einstündigen Gesprächs sah Arnolds Lächeln breiter und zufriedener aus.

Als Alex auf dem Jäckelfels das Gipfelbuch aufschlägt, wird dieser Tag endgültig etwas ganz Besonderes: „Gelegt 1973“, konstatiert er freudestrahlend und beginnt zu blättern: Da ist er, der Eintrag von der Erstbegehung 1981! Und wer hat die zweite eigentlich? „Hudeček!“ Kurzes Weiter-Suchen: „Und wisst Ihr, wer die dritte hat?“, ruft er zum Massiv hinüber ohne auf unsere Antwort zu warten: „Stefan Glowacz und Kurt Albert… oh Mann, dass ist ja wie ein Geschichtsbuch!“

Als Alexander Hanicke die 27. Begehung der Tour (in 38 Jahren) ins Buch schreibt, weiß er dass dies „mein größter Vorstieg“ in der Sächsischen Schweiz ist. Ob er das Gefühl beschreiben kann? – Er überlegt kurz: „Das ist wie eine Geburt. Also ich war zwar bei unserer Tochter damals ´nur´ dabei… aber was nach so langem Warten und Bangen am Ende passiert, das ist so großartig! Das ist das Schönste was es gibt!“

Ein breites Grinsen. Ein Schluck aus der Pulle. Ein dankbarer Blick zum Abschied auf die Kante, die sich in abendliche Schatten hüllt mittlerweile.

Wie lange mag sie diesmal Ruhe haben?

** TV-Journalist Thorsten Kutschke hat das Hanicke-Projekt am Jäckelfels mit seinem Filmteam für die MDR-Sendung „BIWAK“ begleitet. Eine Langfassung des Films mit ausführlichen Interview-Sequenzen wird am 14. und 16. November auf dem Dresdner „Bergsichten“-Festival auf der großen Leinwand gezeigt.

Hier der Trailer, danke Meutz:

https://youtu.be/YANm2uhRZYk