Martin Feistl und Martin Sieberer  entdeckten die lange „Gully-Linie“ am Piz Selva  (2940 m) mit fast 300 Meter durchgehend Eis teilweise tief im Berg, unterbrochen von kurzen Gehpassagen und einem 200 Meter langen Mixed-Zustieg erst dieses Jahr. Es ist vorstellbar, dass die Schlüsselseillänge als reine WI 5 wachsen kann.

Während einer Wiederholung von „Grazie Giovanni“ (M6/WI6) von Max Faletti, Paolo Valentini und Marco Cordin (die, um ehrlich zu sein, hauptsächlich eine Winterkombination mehrerer alter Routen ist) mit David Bruder, bemerkte ich den Eiszapfen an der gegenüberliegenden Wand. Ich erinnerte mich, diesen Eiszapfen schon einmal gesehen zu haben, bei einer ersten freien Tageswiederholung von „Pandora“ von Simon Gietl und Vitto Messini im Jahr 2020. Damals war ich wahrscheinlich zu beschäftigt, aber dieses Mal hatte ich die Zeit, die Linie in meinem Kopf bis ganz nach oben zu spinnen.

Es ist mir sehr wichtig, bei meinen Erstbegehungen keine alten Routen zu verändern oder zu verwenden und sie als meine eigenen zu verkaufen. Das wird echten Erstbegehungen im ursprünglichen Sinne des Wortes nicht gerecht, zumal es in den Alpen eine immer größere und mühsamere Kunst wird, tatsächlich der Erste zu sein wie bei den 1000er-Linien „Stalingrad“ und „Fear Control“ (beide noch nicht wiederholt). Da zum Zeitpunkt der Begehung noch nicht klar war, ob wir überhaupt die Ersten sein würden, verzichteten wir auf den Einsatz von Fixseilen und kletterten die Linie komplett clean. Tja, und natürlich auch, weil es einfach genial ist, eine Wand zu klettern, ohne irgendwelche analogen Spuren zu hinterlassen. Da die Route stellenweise tief im Berg verläuft, kann man die gesamte Linie von nirgendwo aus sehen. Genau das macht den Reiz der Route aus, sich komplett ins Unbekannte zu begeben und nach dem 200m langen Zustieg zu M4 und der Cruxseillänge mit 250m Eis zu WI 4 tief im Berginneren belohnt zu werden. Die Route ist insgesamt einfacher als „Eywa“ (WI6, M6) und „Grazie Giovanni“, aber die Schlüsselstelle erfordert deutlich mehr Erfahrung und Moral im Umgang mit frei hängenden Eiszapfen. Ich hoffe, dass die Linie ein paar Wiederholungen bekommt und so sauber bleibt, wie sie jetzt ist.

Weil zum Zeitpunkt der Erstbegehung nicht klar war, ob wir die ersten waren und um den abenteuerlichen Entdeckercharakter der Linie zu bewahren, wurde außer einer Reepschnur in der allerobersten Abalakov nichts hinterlassen, diese auch erst, nachdem die Seile beim Abziehen festgefroren sind und Martin noch einmal hochgeklettert ist.

Genaue Routenbeschreibung:

1. Seillänge: 200 Meter bis M4 über 2 offensichtliche dünne Eispuren bis unter die Schlüsselseillänge. Ein Zustieg über den wahrscheinlich bereits gekletterten Eisfall rechts der Linie und fallender Querung ist nicht so logisch, wie er aussieht, wenn man unter der Wand steht. (200m, seilfrei)

2. Seillänge: In der Schlüsselseillänge Traverse von rechts nach links an Eispolstern mit einer Eisschraube oben drauf und einem Totem #1 links sowie einem Totem #0.3 rechts. Dann Crux im Fels von links nach rechts hinter dem Zapfen hindurch und auf diesen mit runout bis zur Mitte, wo er angewachsen ist (2 Eisschrauben). 1 weitere Eisschraube und Cam #3 rechts vom dünnen Eis im Ausstieg. Weitere 10m mit Stand im Eis. (50m, 4 Eissschrauben, #1, #0.3, #3)

3. Seillänge: Wegen Eisschlag nur kurze 30m Länge mit Stand in kleiner Gufel im Fels wegen zu schlechtem Eis. (30m, 2 Schrauben, #3)

4. Seillänge: Phantastische Glasurlänge an Eispolstern, wäre sehr anspruchsvoll, wenn nicht am Rücken immer eine Kaminwand zum anlehnen wäre. Stand im Eis. (40m, 2 Schrauben)

5. Seillänge: Kurze Steilstufe und Gehgelände bis Stand in offensichtlicher Eisgufel unter längerem Aufschwung. (30m, 1 Eisschraube)

6. Seillänge: Über 2 Steilstufen im Eis in flacheres Gelände unter das letzte steile Eisstück mit Stand im Eis (50m, 4 Eisschrauben)

7. Seillänge: Über die letzte steilere Eisstufe in Gehgelände und Stand an #2 und Keil am linken Rand des Gullys. (60m, 1 Eisschraube)

8. Seillänge: Gerade aus weiter über die letzten Eisreste auf das große Band ca. 100 Hm unter dem Gipfel zu Sitzstand. (40m)

Erstbegeher / Erstbesteiger:

Martin Feistl und Martin Sieberer am 28.11.2023 onsight. Ab 4. Seillänge mit 3 Eisgeräten für 2 Personen.

Empfohlene Ausrüstung:
2 x 50 m
Expressschlingen: 8
Klemmkeile: Rock 1-8
Friends: #0.3, #1-#3
Bei deutlich weniger Eis in der Schlüsselseillänge könnte ein Satz Haken und Hammer sinnvoll sein.
Ergänzung zur Schwierigkeit:

Es ist vorstellbar, dass die vom Wanderweg oder der Pordoi Westwand aus gut sichtbare Schlüsselseillänge als reine WI 5 wachsen kann.

Absicherung: Alpin
Zustieg zur Wand: Auf teilweise mit pinken Punkten an Bäumen markiertem Zubringer zum Weg Nummer 656. Diesem bis kurz nach der Überquerung des Rio Antermont auf 2130m bis zu markanter Rechtsquerung folgen. Hier direkt unterhalb eines abgestorbenen Baumes auf die anderes Seite des tief eingeschnittenen Rio Antermont zurück wechseln und über felsdurchsetztes steiles Gras in den Graben zwischen Piz Seva und Torre di Siela. Dem Graben bis zum Einstieg auf der linken Seite folgen.
Höhe Einstieg: 2300 m
Abstieg:

Vollständig an Abalakovs abseilen oder wo das nicht möglich war, der gelben Linie im Wandbild entlang folgend absteigen mit Stellen bis M2 und WI 2.