Unsere große Welt lebt von mindestens ebenso großen Superlativen. Da macht unsere kleine Alpinisten-Welt keinen Unterschied. War ich in der Vergangenheit immer ein starker Verfechter davon, diese Superlative und ihre Protagonisten nicht allzu ernst zu nehmen, kann ich mich dennoch einem enormen Stolz über unsere jüngst gekletterte Linie nicht entziehen. Es geht einfach nicht. Und darum posaune ich die harten Fakten jetzt einfach Mal direkt heraus: Erstbegehung, 1000 Klettermeter, M8 und der höchste Eisklettergrad WI7, geklettert von zwei Amateuren in knapp über 15 Stunden. All diese superlativen Zahlen und Daten könnte ich aber auch anders ausdrücken.

Emotionaler, so wie es sich anfühlt, wenn ich an diese Linie zurückdenke: Es ist meine eindrücklichste Kletterei gewesen, die so gnadenlos unkalkulierbar meine mentalen wie körperlichen Grenzen ausgelotet hat, dass ich wirklich hoffe niemals mehr so knapp nicht über die unter Extremsportlern oft gesuchte, meist erst zu spät gefundene Grenze zu stolpern.

Die Saison geht schon so „superlativ“ für David und mich los, dass wir bereits im November eigentlich nicht mehr wissen, was wir als Highlight-Kletterer noch mit den verbleibenden Monaten anstellen sollen. Wir konnten relativ mühelos eine Linie, die von David Lama technisch erstbegangen wurde bei herausragenden Verhältnissen als erste komplett wiederholen. Frei und an einem Tag vom Tal aus. Die Auswirkungen dieser Begehung, einfach nur weil ein D. L. sie bei unglaublich viel schlechteren Verhältnissen erstbegangen hat, waren internationale Publikationen und bei mir einmal mehr die Erkenntnis wie abartig diese Profi-Welt tickt. Kurz darauf der nächste Hammer: Zusammen mit Sven Brand kletterte ich als erster einen 300m langen Direkteinstieg zu einer alten Route an der derselben Wand. Nach dem FFA von der Lama-Tour (Sagzahnverschneidung – 800m, M6, WI6), bietet ein FA die logische „superlative“ Konsequenz. Dass für mich diese Linie aber einfach nur per se der nächste logische Schritt an dieser Wand war – mehr oder weniger egal ob als erster oder 10. – geschenkt.

Nicht geschenkt war es dann, die Marketing-Maschinerie eines riesigen Wallstreet-notierten Unternehmens für Schusswaffen-Munition, Skistöcke, Karabiner und Portaledges anlaufen zu sehen. zwei Athleten dieses Unternehmens waren auch an dieser Wand. Auch ein FA. Haben sie gesagt. Später hat sich herausgestellt, dass es sich ähnlich wie bei meiner Linie wohl eher um einen Direkteinstieg (der unter Umständen ebenfalls schon mal geklettert wurde) zu einer nachgewiesen vor wenigen Jahren schon mal gekletterten Wintervariante einer klassischen Tour handelt. Die erschreckende Erkenntnis für mich: Es ist scheißegal. Es ist scheißegal, wer wann wo schon mal hoch, runter oder rüber geklettert ist, solange die Firma dahinter den erhöhten Marketing-Wert dieser 2 Buchstaben für sich verwerten kann: FA. Jaja, ich weiß, jetzt kommt das olle Glashaus wieder um die Ecke und wirklich entkräften kann ich’s ja auch nicht (das Portaledge von denen war halt am einfachsten zu bekommen…), aber trotz Glashaus wage ich eine Bewusstseinsbildung bei allen Lesern. Ich habe ja genug Helme, falls die Steine dann geflogen kommen. Aber bevor die Steine ihren Weg suchen möchte ich noch folgenden Gedanken loswerden: Gibt es eine bessere Position solche Kritik an diesem von überhöhten Marketingzielen krankenden System zu äußern, als die meine? Mit einem Superlativ nach dem anderen in der Tasche bei gleichzeitig maximal unprofessioneller Vermarktung ebendieser?

Seit diesem fulminanten Saisonauftakt verbringe ich die meiste Zeit also im Nebel in diversen Sportkletterprojekten. Naja, ein Projekt, strenggenommen. Mein schwerstes Projekt, noch strenger – und – superlativ genommen. Das interessiert nur irgendwie niemanden, wenn jemand wie ich in mühevollster Kleinarbeit einen 10er klettert. Es weiß ja auch niemand wie untalentiert ich dafür eigentlich bin und auf den Fotos schauen die meisten 7er auch wie 10er aus, was noch nicht so das Problem wäre, wenn nicht auch die 10er wie 7er aussehen würden. Sehe ich schon ein. Spätestens als ich tatsächlich angefangen habe an so einem affigen Griffbrett zu trainieren war klar, ich muss hier weg. Mich fürchten. Anders fürchten als beim Sportklettern; Substanzieller irgendwie. Beim Sportklettern hat man als größte Angst die, nicht hochzukommen. Und das kann schon unglaublich erdrückend sein. Aber Angst zu haben, sich beide Beine zu brechen, das kann von Zeit zu Zeit irgendwie auch ganz vitalisierend wirken. Also David anrufen, der Bergführer, Partner vielleicht sogar Freund meines Vertrauens für die ganz bestimmten Grenzgänge. David, der Mann, der noch schneller klettert als er gleichzeitig redet, postet und einen Schreibtisch für die Tochter baut. Das Telefonat läuft wie immer in unserer kongenialen Seilschaft: David sagt, wo es hingeht, ich sage jaja, er schickt mir ein Foto, ich sage JAJAJA, ich steige in den Zug, David holt mich am Bahnhof ab und begleitet mich bis zur Wand, die ich hochmachen soll. Anstatt eines Schreibtisches, mussten wir dieses Mal nur einen Christbaum kaufen, aufstellen und auf der Fahrt ins Karwendel bei drei Restaurants halten, um deren Speisekarten zu fotografieren. Ich hab vergessen warum, stand glaube ich auch in Zusammenhang mit dem Christbaum.

Um noch etwas eure Aufmerksamkeit für den Hauptteil übrig zu haben erzähle ich den sowieso meistens langweiligen Zustieg im Schnelldurchlauf: Mit dem Fahrrad 14 km lang auf eisig eingeschneiter Straße im Schlepptau von Davids E-Bike bis zum Ende der Straße geschlittert, Spätzle mit Maggi-Fix Gulasch gekocht und ein kleiner Schokoladen-Nikolaus, bisschen Ramazotti und ein Kippchen zum Schlafen gehen hinterher. Am nächsten Tag wider Willen aufgewacht und mit Bergstiefeln in der Ski-Bindung und Stöcken ohne große Teller den Talboden etwa 1 Stunde lang bildlich bis unter die Wand gewackelt.

Um kurz vor halb 9 startet David in die Eisspur im Vorbau. Wie üblich ohne Seil und wie üblich unter meinem Protest ob der, laut David „herunterfallenden Wattebäusche“. Irgendwann binden wir uns ein und David wühlt los. Schnell wird klar, was hier heute Sache sein wird. Kein genüsslich-steiles Eisklettern. Viel mehr ein imposanter Eindruck, wie unglaublich steil man Schnee locker Stapeln kann. Aber die Würfel sind gefallen, ich habe noch am Einstieg den Wunsch geäußert die wohl steilste und schwierigste 5. Seillänge zu führen. Und das durfte ich dann. Es fällt mir immer noch schwer die Schwierigkeiten dieser Länge in Worte zu fassen.

Ich bin mir bewusst, dass bei anderen Verhältnissen in Kombination mit den 3 belassenen sehr guten Haken all das Theater hier lächerlich erscheinen kann. Aber vor dem Hintergrund folgender Superlative, die ihr jetzt einfach Mal ertragen müsst: „Pandora“ (600m, 5, M6, WI6, FODA, FFA), „Cold Fusion“ (950m, 7-, M8, WI5+, onsight), „Sagzahnverschneidung“ (800m, M6, WI6, FFA), „24 hours of freedom“ (300m, M6, WI4, X, FA) wage ich es nochmals an die erwähnte Grenze aus der Einleitung zu erinnern. Ich bin noch nie so völlig im Moment einer 50 Meter langen Seillänge aufgegangen, bei gleichzeitig dauerhafter Präsenz des Gedankens, dass das meine letzte Seillänge dieser Art sein kann und vielleicht auch werden sollte. All die genannten Superlative sind im mentalen wie körperlichen Anspruch nicht mit dieser einzelnen Seillänge zu vergleichen, sondern nur kleine Schritte auf dem Weg dorthin.

Als David hinterhersteigt und an meinem Standplatz ankommt, setzt er sich wortlos neben mich und zückt eine Zigarette. „Man weiß nie, vor welcher Seillänge es die letzte sein könnte“, denke ich mir und beim Blick auf seine nächste Länge waren das wohl auch Davids Gedanken. Die Kletterei erinnert beim Anblick stark an die Verhältnisse, die 1992 in der historischen „Beyond good and evil“ in Chamonix bei der Erstbegehung durch Andy Parkin and Mark Twight herrschten und mit allen X und Rs ausgestattet wurde, die diese Welt der zusätzlichen Bewertung der (Un-)Sicherheit hergibt. Wir verzichten nach längerem Überlegen auf zusätzlich Bewertung der Sicherheit, stattdessen könnt ihr euch seitenweise durch unsere Erzählungen quälen, um hoffentlich zum Ergebnis zu kommen: Ohne suizidale Tendenzen sollte man hier relativ oft nicht loslassen.

Aber jetzt kommt ja der einfache Teil, hat David gesagt. Irgendwas mit Schneerinne und Stapfen, ja das klingt gut. Nach 20 Metern artete das Stapfen aber relativ abrupt wieder in nahezu nicht senkrechtes Schnee-Gewühle aus, das mich wiederum unter die klettertechnische Schlüssellänge brachte. Ein etwa 4 Meter hoher Überhang, der bei mehr Schnee mit Sicherheit einfach überstapft werden kann, versperrte den Weg. All mein Hoffen, dass ja eigentlich David dran wäre mit Vorsteigen, ging nicht in Erfüllung. Mit nur 40 Meter Stapfen meinerseits ließ sich David verständlicherweise nicht abspeisen und er wünschte mir viel Spaß. Na toll. Direkt nach dem Standplatz ließ sich im Dachwinkel ein perfekter Totem legen, ich traversierte an einer brüchigen Untergriff-Schuppe nach links bis an die Dachkante, konnte nochmals einen kleinen Totem legen und stand dann da. Ein Eisgerät im semi-vertrauenserweckenden Eis über dem Dach, da wo das kleine Eissäulchen angesetzt hatte, bevor ich es runtergestoßen habe. Das andere Gerät weit unterhalb noch irgendwo verkeilt hing ich nun da und überlegte hin und her. Aber ich kann doch jetzt nicht ernsthaft in so einer Tour eine „Figure of 4“ auf mein Eisgerät machen? Das, nein, das erschien mir auch in dieser ziemlich kranken Route over the top zu sein. Nach minutenlangem Zögern entschied ich mich endlich die Füße rausschwingen zu lassen, blockte 2, 3 Mal in besseres Eis durch und zog die Füße so ästhetisch wie man es sich nur vorstellen kann hinterher, bis ich ein Knie über die Dachkante wuchten konnte. Zeitgleich mit dem unumkehrbaren Entschluss die Füße kommen zu lassen begann ein Spindrift von oben mein Gesicht einzueisen. Ich bin mir regelrecht verarscht vorgekommen: Da eiere ich minutenlang hin und her, und in dem einen Moment, in dem es kein Zurück mehr gab, schlägt der Berg zu. Welch ein Klischee aus vergangenen Zeiten, aber langsam begannen wir es persönlich zu nehmen. Jetzt muss es doch mal einfach werden?! Einfacher, ja. Einfach wohl eher nicht.

 

 

Es folgten 8 immer zwischen 60 und 90 Meter lange Seillängen in relativ unspektakulärem Gelände, viel Stapferei (endlich!), aber mit nerviger Konstanz eingestreuten Stufen, die in Kombination mit dem abnehmenden Eis und zunehmenden Pulverschnee immer nerviger, schlecht oder gar nicht abzusichern waren und einfach unglaublich viel Zeit in Anspruch nahmen. Apropos Zeit: Glücklicherweise kann’s im Dezember irgendwann nicht mehr dunkler als 17 Uhr werden, Zeit war also kein Problem mehr. Um 20:45 Uhr erkannten wir, dass das, was wir für das Ende gehalten haben, eine in der Nacht unüberwindbar erscheinende senkrechte Abschlusswand darstellt. Resignation macht sich breit und der klägliche Versuch mit mir selbst ins Reine mit dem Gedanken zu kommen, 2 Seillängen unter dem «Sieg», unter der «Erfolg» einer bahnbrechenden Erstbegehung umdrehen und «scheitern» zu müssen. Ich konnte es nicht.Aber Vorsteigen konnte ich auch nicht mehr. Zu präsent waren die Gefühle aus der 5. Seillänge, zu groß die Angst mit schlechter oder keiner Absicherung wieder und wieder ins Unbekannte zu klettern. David konnte sich mit dem Gedanken des Umdrehens wohl auch noch nicht vollends anfreunden und was folgt, kann ich ohne jeden Superlativ als unsere stärkste Teamleistung bezeichnen, die wir jenseits des phantastischen Schreibtischs für Tochter Nummer 2 und 3 vollbracht haben. David erkannte meine Schwäche-Phase (war bei dem ganzen Gejammer wohl aber auch nicht allzu schwierig) und machte die vorletzten und mittlerweile 16. Seillänge hoch. 20 Meter. 20 lächerliche Meter in eine so einladend wirkende geräumige Höhle, dass ich schon darüber nachdachte ob und wenn ja wann am nächsten Morgen ein paar Sonnenstrahlen vielleicht in die Wand scheinen könnten.

Ich wusste zu dem Zeitpunkt offensichtlich noch nichts von dem bald einsetzenden Schneefall. David hatte offensichtliche Probleme mit dem lockeren Pulverschnee auf den vollkommen geschlossenen Platten, suchte links und rechts nach Möglichkeiten und fing irgendwann mit Techno-Tricks an. So mit Fuß in Schlinge stehen, miesen Messerhaken über dem Kopf schlagen, höher stehen, um mitsamt dem Haken über die Kalkplatte wieder zurück in das Schneefeld zu stechen. Ich hatte große Mühen meine Augen offenzuhalten und irgendwann waren mir auch diese Mühen zu mühevoll. Ab und zu schreckte ich hoch, von einem David, der zum wiederholten Male fluchend und mit den Steigeisen funkensprühend über die Platte segelte, gewaltsam aus dem Schlaf gerissen. Nach einer guten Stunde war ich genug erholt, um die Don Quijotischen Anstrengungen Davids wieder mit anfeuernden Worten unterstützen zu können, zeitgleich verstand ich aber nicht, warum er da jetzt noch unbedingt hochwollte? Eigentlich war uns beiden klar, danach ist Schluss. Keiner wird noch in die 2. Länge der Headwall einsteigen können.

Ich beginne Pläne von einem Sitzbiwak zu schmieden, um bei Tageslicht die letzten Meter zu klettern. David wollte einfach nur in diese Höhle. Nach etwa 2 Stunden, die wir für diese 20 Meter benötigten und einer freien Begehung im Nachstieg meinerseits, war mein Sportkletter-Ehrgeiz ob einer Begehung dieser Linie im besten denkbaren Stil wieder geweckt. Ich kann es nicht erklären, aber so sicher wie ich einen weiteren Vorstieg in dieser Nacht ausgeschlossen habe, so schnell war die Entscheidung am Standplatz gefallen: «Komm, ich schau da noch hoch.» Vielleicht lag es daran, dass ich in Davids Ausdruck sofort erkennen musste, dass er hier und jetzt abseilen wird, wenn nicht ich nochmal vorsteige. Es folgte eine 55 Meter lange Länge durch einen unglaublich gestapelten Bruchhaufen, mehrere wundervoll singende Haken und zum ersten Mal an dem Tag ein perfektes Cam-Placement nach dem anderen. Beschwingt von so viel Sicherheit wie den ganzen Tag noch nicht bei überraschend einfachem Gelände wühlte ich mich im mittlerweile einsetzenden Schneefall dem Ende entgegen. Dem Ende dieser Linie, aber nicht dem Ende dieser Tour, nicht dem Ende dieses Tages – mit der Ankunft um 23:30 am Ausstieg vielmehr dem Anfang eines neuen – und vor allem, nicht dem Ende dieser – wie David sagt – harmonisch unharmonischen Seil- und Freundschaft.

Text: (c) Martin Feistl

Martin Feistl und David Bruder